Eine Kerze hinter Stacheldraht

Erinnerung an die Deportation in die Sowjetunion 1945 – 1949

Ein Bericht von Barbara Hehn

Der Gedenktag an die Deportation unserer Landsleute nach Russland jährt sich heuer zum 77. Mal. Solche Ereignisse in Viehwaggons, engen Baracken hinter Stacheldraht bei unerträglicher Hitze oder Kälte, bei Schnee und Sandsturm, jeglicher Menschenwürde beraubt und hilflos der Willkür von Peinigern ausgeliefert, dürfen sich nie mehr wiederholen.

Wir alle wissen, dass zu Zeiten der Diktatur in Rumänien, das Thema Zwangsarbeit tabuisiert wurde. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben unsere Heimatortsgemeinschaften begonnen diese Ereignisse aufzuarbeiten.

So wurde auch im Sanktandreser Heimatblatt im Jahr 1995 eine umfassende Analyse dieser Erlebnisse vorgenommen und veröffentlicht. Zu dieser Zeit gab es noch viele Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen an uns, die Nachfolgegeneration, weitergereicht haben. Das sind sehr wertvolle Berichte, welche die Mühen und das Leid der Jahre voller Entbehrungen und Demütigungen beschreiben. Aus unserem Dorf waren insgesamt 324 Frauen und Männer deportiert. Sie waren zerstreut in 5 Arbeitslagern interniert – in Orsk; Stalino; Gorlowka; Makejewka und Tscheljabinsk. Davon sind 39 Personen nicht mehr heimgekehrt. Sie konnten dem Hunger, der Kälte, dem Heimweh und der Sehnsucht nicht standhalten.

Vom Schicksal der Deportation betroffen war auch mein Vater. Er war im Lager 1902 in der Stadt Orsk, im südlichen Uralgebiet. Insgesamt waren 90 Sanktandreser dort. Mit ihm konnte ich nicht darüber sprechen, weil er seit vielen Jahren nicht mehr lebt. Mit seiner Schwester, meiner Tante, mit Verwandten und ehemaligen Nachbarn, welche mit ihm im gleichen Lager waren, habe ich mit zunehmendem Alter, über diese Ereignisse sehr intensiv diskutiert.

Frau Anna Schreiber, welche auch im Lager in Orsk war, hat viele Erlebnisse nach ihrer Heimkehr schriftlich festgehalten um sie ihren Kindern zu hinterlassen. Sie konnte in Russland lange Zeit ein Tagebuch führen, welches sie leider bei einer strengen Kofferkontrolle im Sommer 1947 entsorgen musste, zusammen mit ihrer Landkarte, die sie noch aus ihrem Atlas von zuhause herausgerissen hatte. So konnte sie damals die Route bis zum Ural nachverfolgen – von Temeswar über Deva, Herrmannstadt, Kronstadt, Ajud, Bacau, Roman, Iasi, Kischinew, Bendery, Kriwoirog, Krementschuk, Poltawa, Charkow, Woronesch, Pensa, Kusnezk, Sysran, Nowokuibjeschew, Orenburg bis nach Orsk am Ural, an der Grenze Europas zu Asien.
Die Odyssee begann am 19. Januar vom Fabrikstädter Bahnhof und endete am 7. März in Orsk. Geschwächt, krank, ungewaschen, voller Läuse, durften sich die Leute nach dieser 48-tägigen Reise in einer zweiwöchigen Quarantäne etwas erholen, ehe zum 1. April der Arbeitseinsatz losging. Sie wurden je nach körperlicher Verfassung „klassifiziert“ und verschiedenen Arbeitsbrigaden zugeteilt. Die Handwerker durften ihren Beruf ausüben, auch außerhalb des Lagers. Eine Brigade sorgte dafür, dass die Werkbahngleise instandgehalten wurden. Sie waren auch zum Ausladen aller Waggons mit Kohle, Salz, Soda … eingeteilt. Die Baubrigade musste zuerst im Steinbruch die Steine von Hand rausschlagen, verladen und mithelfen beim Verbauen. Sie haben ihr gesamtes Lager – bestehend aus fünf Baracken mit den dazugehörigen Verwaltungsgebäuden neu aufgebaut. In den Folgejahren wurde das Krankenhaus von Orsk und viele zivile Wohngebäude errichtet. Alles wurde von Hand erarbeitet – ohne Kran und Betonmischer.

Die meisten unserer Landsleute waren im Südural-Nickelkombinat beschäftigt. Das Kombinat erstreckt sich auf einem 16-ha großen Areal. Nickel wurde aus kupferhaltigem Eisenerz gewonnen. In den Hochöfen wurde das Erz unter komplizierten Verfahren zu Rohnickel verhüttet, der dann im Elektrolyse-Verfahren zu Reinnickel veredelt wurde. Vom Abladen des Erzes bis zum Verladen der fertigen Nickel- sowie weiterer Buntmetallplatten haben unsere Väter und Mütter in Tag- und Nachtschichten geschuftet und waren den gesundheitsschädlichen Stauben, Gasen und Chemikalien ausgesetzt.

Das Kombinat wurde 2001 vom Moskauer MECHEL-Konzern übernommen und ausgebaut. Es produzierte bis 2011, als die Produktion eingestellt wurde. Die Homepage des Konzerns berichtet:

„Im Jahr 2011 produzierte Mechel über 27,6 Millionen Tonnen Kohle, über 6,1 Millionen Tonnen Stahl und verkaufte über 12,5 Millionen Tonnen Kokskohlekonzentrat, über 4,3 Millionen Tonnen PCI und Anthrazit, über 6,4 Millionen Tonnen Kesselkohle, über 4. 4 Millionen Tonnen Eisenerzkonzentrat, über 4,5 Millionen Tonnen Lang- und Flachwalzen, etwa 1 Million Tonnen Eisenwaren und Maschendraht, 16.300 Tonnen Nickel, 84.000 Tonnen Ferrosilizium, 58.000 Tonnen Chrom, etwa 4 Milliarden KW/h Strom und über 7 Milliarden Gcal Wärme. Mechel konsolidiert 30 Produktionsunternehmen.“
„Im Dezember 2012 wurde die Produktion im Nickelwerk Südlicher Ural aufgrund ungünstiger Marktbedingungen ausgesetzt.“

Von den Sanktandresern welche in Südural-Nickelkombinat Orsk waren, lebt heute noch Frau Lefort. Alle anderen haben bereits ihren ewigen Frieden gefunden.

Wie grausam und schlimm die Zeit in den Arbeitslagern in Russland war, das haben ein paar Betroffene selbst beschrieben. Diese Berichte beleuchten stellvertretend das Schicksal jedes Einzelnen unserer deportierten Landsleute.

Auch die renommierte Schriftstellerin Herta Müller hat zusammen mit Oskar Pastior, dessen Erinnerungen an seine Zeit in Russland, in ihrem Roman „Atemschaukel“ verarbeitet. Es ist ein bleibendes Mahnmal auf der internationalen Literaturbühne, für alle deportierten Siebenbürger und auch Banater, denen das gleiche Los beschieden war.

1995 hat der damalige rumänische Staatspräsident, Ion Iliescu, die Deportation der Deutschen aus Rumänien zutiefst bedauert. Rumänien zahlt den Betroffenen, auch jenen die im Ausland wohnhaft sind, eine monatliche Entschädigung für dieses erlebte Unrecht. Im Jahre 2015 wurde im deutschen Bundestag beschlossen, den noch lebenden deutschen Zwangsarbeitern eine einmalige Entschädigung zukommen zu lassen. Mit Verabschiedung des Gesetzes Nr. 130/2020 gewährt Rumänien auch den Kindern der Deportierten eine Entschädigung in Form einer monatlichen Rentenzahlung. Auf diese Art und Weise wird versucht das geschehene Unrecht zu vergelten. Für viele Betroffene leider viel zu spät.

Wir leben heute in einem freien Land in dem seit 77 Jahren Frieden herrscht. Dafür müssen wir dankbar sein.

Ich werde heute diese Kerze anzünden und aller gedenken, welche diese schwere Zeit durchmachen mussten.


Die HOG Sanktandres veröffentlicht ab heute auch einen ausführlichen Bericht über dieses historische Ereignis auf unserer Website Sanktandres – Ortsgeschichte – Deportation 1945-1949.

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