Allerheiligen


Der Herbst zeigt sein Antlitz. Er hat – wie jedes Jahr – uns wieder ereilt. Die bunten Blätter flimmern im leisen, wehenden Wind über dem Gräbermeer, als würden sie schon ungeduldig auf einen leichten, feinen Frost warten, um sich in einem farbenprächtigen Laubteppich am Boden des Friedhofs zu formen. Und siehe da: Allerheiligen – das christliche Hochfest – macht sich bemerkbar. Das Gedenken an Allerheiligen gilt allen Menschen, die ihr Leben nach dem Glauben des Christentums geführt haben. Am zweiten Novembertag weist der Kalender auf Allerseelen hin. Ein Gedenktag für alle Verstorbenen, nicht nur für die Heiligen. Wenn diese beiden Gedenktage weit zurückblickend zum Innehalten ernannt wurden und bereits in der Antike ihre Bedeutung hatten, so sind Allerheiligen und Allerseelen heutzutage nicht mehr getrennt, sondern zu einer kirchlichen Gedenkfeier an die Heiligen und Toten verbunden. Das war im Banat so, und auch in unserem neuen Zuhause – hier in Deutschland ist es eben nicht anders.


Ob auf der Heide oder in der Hecke in der Banater Tiefebene, im feuchten Novembernebel von damals, besuchten wir am herbstlich kühlen Abend auf den Friedhöfen des Banats die Gräber unserer Verstorbenen und zündeten dort Grablichter an. Schon im Vorfeld des ersten Novembertages eiferten die Menschen diesem Gedenkfest entgegen. Chrysanthemen unterschiedlichster Art schmückten die Grabstätten. Die Symbolik dieser sogenannten Goldblume steht für ein langes Leben. Am heutigen Tag, hier und jetzt: wahrscheinlich auch für ein ewiges Leben. Damals war Beton für eine Umrandung und für die Platte des Grabes noch undenkbar. Dieser Baustoff: Ein Fremdwort. Banater Graberde, vom Unkraut ferngehalten, gepflegt, formten die geradlinigen Grabreihen auf dem Gottesacker. Die Inschriften auf den Grabsteinen waren gut leserlich, denn die Chance des angriffslustigen Mooses auf eine Ausweitung auf dem Stein hielt man einfach für nicht vertretbar. Schöne Kränze zierten die gepflegten Grabsteine.


Die kleine Friedhofskapelle putzte man heraus, denn schon am Nachmittag des 1. Novembers bimmelte das Friedhofsglöckchen und lud die ersten Gläubigen zu einer Festmesse ein. Meistens unsere Großeltern waren bei dieser Andacht für unsere Verstorbenen dabei. Am Abend, wenn es schon dunkelte, strömten die Eltern mit ihren Kindern zum breit geöffneten Friedhofstor. Sie zündeten die schmalen, langen, weißen Kerzen an und steckten sie behutsam auf die Gräber der Verwandten und Bekannten, die ihnen zu deren Lebzeiten sehr nahestanden. Die brennende Kerze symbolisiert die Seele, die im dunklen Reich des Todes leuchtet. Das stille Beten an den Grabstätten war ein Reden des Herzens mit dem lieben Gott, aber auch für eine innige Fürbitte gedacht.
 
Links von der Sanktandreser Friedhofskapelle gelegen, ragten Holz- und Marmorkreuze zum Gedenken von gefallenen Helden empor. Auf einem Grab lagen zwei verrostete Helme. Trotz dieses stählernen Kopfschutzes haben die kommunistischen Machthaber im September 1944 zwei ungarische Soldaten in der Dorfmitte erbarmungslos regelrecht hingerichtet. Hierzu war ein stilles Erinnern aller Bewohner an diesem Tag immer gegeben. So ähnlich dürften alle Banater Landsleute diesen Tag aller Heiligen und aller Verstorbenen erlebt haben.

Allerheiligen im Banat
An jenem Novemberabend betrachtete man auf den Banater Friedhöfen ein endloses Lichtermeer und empfand den Anschein eines lodernden Feuers auf Erden. Ein Event, das man zu jener Zeit sehr, sehr emotional wahrnahm.

In der heutigen Zeit suchen in Sanktandres noch einige deutsche katholische Gläubige an Allerheiligen vereinzelte Grabstätten auf. Das Friedhofsglöckchen ist schon lange, lange verstummt. Ab und zu segnet der Pfarrer, der manchmal aus Temeswar vorbeischaut, die Gräber, die in massiven, mittlerweile in bröckelnden Betonhüllen verpackt sind. Manche Grabsteine konnten den Witterungsverhältnissen der letzten Jahrzehnte nicht mehr standhalten und liegen gebrochen und verwahrlost am Friedhofboden. Andersrum: Schiefe, nicht mehr zuordnungsbare, unleserliche Marmorkreuze vom 18. Jahrhundert stehen immer noch auf dem Totenacker. Und wir wundern uns über die Akzeptanz dieser heutigen, vorzufindenden Situation. Unsere Heimatortsgemeinschaft hält weiterhin entschlossen an diesem Faktum einer jahrhundertalten Friedhofspflege fest. Auch die Kapelle erhielt in den Jahren 2023/2024 Dank der zahlreichen Spenden einen neuen Glanz.

Allerheiligen 2022 in Sanktandres
Grabstätten ohne Namen

Die Erinnerung an die Toten auf den Heimatsfriedhöfen wird bedauerlicherweise bald erloschen sein, denn auch uns wird es bald nicht mehr geben. Unsere Ära geht langsam dem Ende zu. Wir müssen wahrheitsgetreu der Realität in die Augen schauen: Wir sind die letzte Generation der dort Geborenen. 


Wir alle werden wahrscheinlich irgendwann auf einem Friedhof in der neuen Heimat – hier in Deutschland – voraussichtlich in Frieden ruhen. Schöne und gepflegte Grabstätten werden vermutlich an uns erinnern und sie werden eine Weile – eine kürzere Zeitspanne von unbestimmter Dauer – auch vorhanden sein. Handgefertigte, winterliche Gestecke werden auf den Gräbern sichtbar sein, um der verstorbenen, geliebten Menschen zu gedenken. Eine Grabkerze mit einer Aufschrift, zum Beispiel „In unseren Herzen lebst Du weiter“, wird auflodern.


Und… man wird an das Denkmal der Vertriebenen schreiten und für alle Verstorbenen – bekannt oder auch unbekannt – ein tiefgründiges Gebet verrichten.

Denn: „Der Tod ist nicht das Ende, nicht die Vergänglichkeit, der Tod ist nur die Wende, ein Beginn der Ewigkeit.“ Es ist die Zeitlosigkeit mit Anfang, aber ohne Ende.

Alle Verstorbenen von hüben wie drüben mögen in Frieden ruhen!