Erinnerungen von Hans Janzer
In den 60er und 70er Jahren kristallisierte sich eine Zeit heraus, wo die Deutschen in Sanktandres wieder Fuß fassten und ihre Identität einigermaßen wieder behaupten konnten; eine Zeit nach dem Krieg, eine Zeit nach der Deportation und eine Zeit nach Vergeltung und Hass. Ein „schwowisches Lewe“ machte sich in allen Gassen breit. In unseren Straßen taten sich Ereignisse auf, die lange noch in unserem Gedächtnis bleiben und somit auch noch eine Weile überleben werden.
An der Kreuzung Schadaner Feldweg/Zwettgass stand ein Martel. Betrachtete man dieses aus Holz gefertigte Kreuz, so erblickte man auch den östlich gelegenen katholischen Friedhof mit seinem Geräteschuppen. An diesem Wegkreuz zogen fast alle Leichenzüge mit Trauernden, mit dem geschmückten Totenwagen und mit den mitfühlenden Gesängen des Kirchenchores vorbei.
Auch andere derartige Wegkreuze symbolisierten die Überquerung von drei weiteren Gassen.
Die Fuchsgasse macht von der Geradlinigkeit eine kleine Ausnahme. Durch die schlingenartige Hauptstraße (Temeswar-Mercydorf), die die Fuchsgasse durchquert, gestaltete sich mit der katholischen Kirche, mit der Schule, mit dem Kindergarten, mit einem Verkaufsladen, mit dem Sfat (Rathaus) und mit dem Dispensar (Ärztehaus) das Sanktandreser Zentrum.
Im Westen grenzt die Fuchsgasse an die „Kleeni Allee“, die ebenfalls wie die „Großi Allee“ zum Bahnhof und nach Bschinwa (Neubeschenowa) weist. Am Rande der kleineren Allee befand sich der „Pomani-Brunnen.“ Ein Brunnen, der zu jener Zeit keine Bedeutung mehr fand.
Wenn man von der Banater Landeshauptstadt Temeswar in den Ort einreist, zeigen die Wasserstadt und die Hutweide ihre Häuserreihen.
Die Zigeunergasse erstreckt sich ostwärts bis zum Ortsteil Neues Dorf. Im westlichen Teil der Straße steht die im Jahr 1834 erbaute orthodoxe Kirche. Das „Kleine Gässchen“ hinter dem gewesenen Nationalhaus stellte eine Verbindung zwischen der Zigeunergasse und dem Zentrum her.
Zwei Kreuzgassen sind besonders auffällig. Es ist die im Westen gelegene Dreijakobsgasse und die mittige Kreuzgasse Temeswarer-Straße/Zentrum/ Mercydorfer-Straße. Die Letztere auch Hauptstraße genannt.
Die fünf groß angelegten Gassen in Sanktandres sind alle knapp zwei Kilometer lang und werden von vier Kreuzgassen mit einer Länge von zirka je einem Kilometer durchquert.
Die Altgasse war der erste Ortsteil, der planmäßig in Deutsch-Sanktandres schon im Jahr 1770 angelegt wurde. Von der Altgasse aus schlängeln in Richtung Norden drei Straßen; eine führt nach Hodon, die zweite nach Mercydorf und über einen Feldweg gelangt man zur Ortschaft Schadan.
In der oberen Altgasse (Westseite) in Richtung Hodon, waren landwirtschaftliche Geräte gehortet und gegenüber protzte damals die alte Dorfmühle. Ich bewunderte bei jedem Zutritt zur alten Mühle die geräuschvollen, für mich damals die fortschrittlichen Gerätschaften und den dort erzielten grob gemahlenen Maisschrot für das Vieh oder das fein gemahlene weiße Mehl für unser alltägliches Brot.
Die Zwettgasse hat zwei Ausläufer. In Richtung Westen gestaltet sie sich zu einer sogenannten „Großi Allee“. In Richtung Osten grenzt sie an die Lehmkaul. Von dort gelangt man über die Arader Straße zur Andreser Ferma (IAS). Das große Wasserloch in der Kaul oder der „große Entelacke“ wie man diesen Fleck in den 60er Jahren noch benannte, glich einem friedlichen Weiher, fühlte das Geflügel sich dort doch sehr wohl.
Ein Teil der Zwettgasse wurde schon recht früh asphaltiert, da die Post, das Kaufhaus „Supermagazin“ mit der Matt (Wirtshaus), das Milizpräsidium, die Feuerwehr, die Bäckerei, die Konsumgenossenschaft, das Kulturheim mit der Bibliothek und das Entbindungsheim hier ihre Herberge fanden.
Im Osten von Sanktandres formte sich ein Ortsteil für sich; das Neue Dorf mit seinen eigenen zwei Gassen. Hier waren zwischen den Bäumen Bänke verankert, wo sich die Ansässigen oftmals abends versammelten und den verstrichenen Tag Revue passieren ließen.
Die Muskowi war uns Deutschen regelrecht fremd.
Spielplätze waren zu jener Zeit im Ort nicht angelegt. Die breiten Gassen des gesamten Dorfes konnte man als Spielplatz bezeichnen. Es wurde emsig „Versteckelches“, „Pack-Pack“, „Zurka“, „Abtrummelches“ usw. gespielt. Die Kinder spielten auch viel Fußball zwischen den Baumreihen der Straßen. Fußballtore und Sportdress gab es keine. Haben sich viele Gassenkinder zusammengefunden, legte man zwei Steine etwa drei Meter entfernt auf den holprigen „Rasen“ und bezeichnete diese Konstruktion als geniales Fußballtor. Heute scheint es mir schon ein bisschen verwunderlich, man wusste meistens, ob der Ball im Tor oder überm Tor landete. Als Kleidung reichte die „Klotthoss“ (schwarze Turnhose) und ein „Majo“ (weißes Turnhemd) kannte jeder doch jeden.
Manchmal stoppte der Trommelmann unser Treiben. „WathsApp“ unter dem schattigen Akazienbaum. Der „Trummler“ verkündete die neueste Nachricht des Warschhauses (Rathaus). So trug man Rechten und Pflichten an die Straßenbewohner und man war deshalb immer gut informiert.
Wir freuten uns riesig, wenn Veddr Toni – er war Fuhrmann – in der grellende Mittagssonne, die vom Durst geplagten Pferden zum artesischen Brunnen führte. Da baten die dreikäsegroßen Knaben ihn um eine „Reitstunde“. Er hob uns auf die Tiere und wir stolzierten (ohne Sattel!) durch die weiten Straßen. Da war eben Mutter gezwungen, geduldig aufs Mittagessen zu warten.
Zum Baden eigneten sich folgende Andreser „Freibäder“: „Die vier Putsche“, „S’Ochsebrickl“ und die „Weiße Brick“. Die Fahrwege führten zum Baden schnurstraks dorthin.
In den anfänglichen 60er Jahren setzte man viele Highlights ins örtliche Sportplatzpanorama. Der Sportplatz „Gloria“ war südlich vom Neuen Dorf platziert. Man stellte Verkaufsbuden auf, zog kreuz und quer zwischen denen ein langes, dickes Elektrokabel und brachte stinknormale Glühbirnen an, die man mit den unterschiedlichsten Farben beschmierte. Das Farbige, das Bunte, ließ schon auf ein besonderes Fest schließen. Die etwa 15-Mann starke Blechmusik – unsere Dorfkapelle – untermalte das festliche Geschehen. Die ganze Dorfgemeinschaft war außer Rand und Band. Es wurde so richtig Rabatz gemacht.
Der Alltag in unserem Dorf. Am frühen Morgen und am Abend trieb der „Kiehhalter“ (Kuhhirt) die Rinder durch die Gassen. Das Peitschenknallen des Hirten, die tobenden Hunde und das Krähen der Hähne auf den Tennen der Häuseranlagen begleiteten morgens die Herde. Die Gänse, die am Abend vom artesischen Brunnen heimkehrten, versuchten das Muhen der Kühe mit ihrem ständigen Geschnatter zu übertönen.
Wenn im Sommer ab und zu ein ratterndes Fahrzeug durch die „Fahrwege“ sich traute, so verdunkelten sich die Straßen, denn die Staubwolke machte sich über den Dächern der schön geweißten Giebelhäuser breit. Um das Jammern der Bewohner zu unterdrücken, hieß es deshalb schlicht und einfach „sieben Kilo Dreck ist jedem Mensch im Leben zugedacht“. Und aus die Maus. Ja, da sichtete man die elegante Scharetta (zweirädriger Einspänner) des Arztes oder die mit Kutzen (Wolldecken) ausgelegte Kuless (Kutsche) des LPG-Vorsitzenden viel lieber. Im Winter zog manchmal ein Pferdegespann den leisen Schlitten über den glitzernden Schnee, der die Gassen in voller Schönheit verzauberte.
Häufig saßen wir Kinder in den geradlinig gezogenen Gräben, die von wenig Wasser, aber mit blühenden Kamillen, „Herrgottsbrot“, Quecken und viel Unkraut verziert waren und dadurch uns bei den träumerischen Kinderparabeln ein wohlfühlendes Polster gewährten. Wir mussten nur himmlisch darauf achten, dass keine stechende Distel oder juckende Brennnessel uns bereitwillig betatsche oder liebkoste.
Nach einem Gewitter mit viel Donner, Blitz und einem kräftigen Regen waren die breiten Gassen nicht befahrbar, aber sie zeigten sich wundervoll geprägt von einer idyllischen Straßenlandschaft. Die Sonne spiegelte sich bereits im quellenden Wasser der tiefen Fahrrinnen, der bunte Regenbogen spannte am Horizont sein Zelt breit auf und… es regnete noch immer. Und da hieß es: „De Teiwel strooft jetz sei Weib.“ Die frische Luft spornte nun die Dorfbewohner an, in ihre prachtvoll gepflegten Gärten zu gehen und das emsige Gedeihen von Obst und Gemüse zu bewundern.
Wenn im Winter das Firmament im Westen sich abends leuchtend rot färbte, wandte meine Oma sich zu mir und sagte sehr überzeugend: “G`sischt Bu, jetz backt`s Chrischtkindl de Kuche.”
Abends im Sommer, wenn der Himmel westlich schon rötete und die Sonne sich vom friedlichen Treiben der Bewohner verabschiedete, begaben sich viele Dorfbewohner zum Friedhof, um die Grabblumen zu gießen. Das Geläut der Abendglocke für die Allerseelen – vom Turm der Kirche getragen – begleitete sie.
Die Allee mit den gut riechenden Akazienbäumen ermutigte die Seele der noch Lebenden. Später, als die alten Bäume auf Anordnung der Dorfbehörden weichen mussten, war das Fallobst für das Wohlergehen der Bevölkerung zuständig.
So lebte man in den 60er und 70er-Jahren in Sanktandres. Viele Andreser von jener Zeit ruhen auf dem Friedhof oder sie leben heute in einer neuen Heimat.
Das einstige Treiben in den Andreser Gassen ist Vergangenheit. Es war einmal; die Erinnerungen sind jedoch geblieben.
Fotos: Sanktandreser Heimatbuch, Katharina Thüringer, Eduard Schreiber, Helmuth Ganzer, HOG Sanktandres
Der Beitrag ist unter “Buntes Treiben in unseren Gassen von einst” auf der Seite “Im Banat daheim” auch in der ADZ für Rumänien am 17.3. und 24.3.2021 erschienen.