von Anton Heidecker
Die Leidenschaft der meisten Familienforscher ist, immer neue Vorfahren zu finden. Dazu werden Archive, Bibliotheken und alte Kirchenbücher durchstöbert. Hat man einen Vorfahren gefunden öffnen sich gleich weitere Linien und die Suche beginnt von vorne. Diesem Suchen ist meistens eine Grenze gesetzt, denn die ersten Kirchenbücher, in denen die Geburten, Heiraten und Sterbefälle verzeichnet wurden, kamen erst im 16. Jahrhundert auf. Auch gingen viele dieser Kirchenbücher durch Kriege, Feuer und andere Unglücke verloren. Was vor diesem Zeitraum geschah und wer die gewöhnlich Sterblichen waren und welche Namen sie trugen, ist daher schwer zu ermitteln.
Da mehr als 95% unserer Vorfahren Bauern, Handwerker, Unfreie usw. waren, findet man nur sehr wenige Aufzeichnungen über diese Menschen. Ausnahmen bilden z.B. Kirchensteuerlisten oder Gerichtsverhandlungen (Erbschaft, Diebstahl usw.), die man mit viel Glück in Kloster- oder Stadtarchiven finden kann. Hat man eine Spur gefunden folgt meistens ein mühseliges Suchen. Für diese Tätigkeit braucht man Spezialisten mit Sachkenntnis und viel Geduld, die dann auch einzelne Vorfahren bis ins 14. – 15. Jahrhundert ermitteln können.
Besonderes Glück hat man, wenn einer der Vorfahren eine Verbindung zu den Adelsgeschlechtern hat. Da die Stammtafeln der Adligen schon seit den frühesten Zeiten aufgezeichnet und aufbewahrt wurden, kennt man die Ahnenreihe dieser Personen recht gut. Mit Hilfe dieser Stammtafeln kommt man mit den Nachforschungen oft bis zum Anfang unserer Zeitrechnung.
Heute eröffnen sich den Familienforschern ungeahnte Möglichkeiten durch das Internet, wo unzählige Daten und Ahnentafeln das Nachforschen erleichtern, was man sich früher kaum vorstellen konnte.
Auch mir erging es so, vor gut einem Jahr, nachdem ich im „genea.net“, der Reihe nach, alle mir bekannten Namen der Vorfahren meiner Familie eingab, entdeckte ich zwei Linien, die zu adligen Stammtafeln führten. Meine Überraschung und Begeisterung danach waren so groß, dass ich mir wochenlang beim Suchen kaum Pausen gönnte. Ich konnte anhand dieser Stammbäume viele unserer Erblinien bis in Römer- und Völkerwanderungszeit zurückverfolgen, was mir noch immer unfassbar erscheint.
Dieses Glück, einige seiner Vorfahren bis zur 60. Generation in direkter Linie zurück zu verfolgen, kommt nur selten vor.
Mit Hilfe dieser Nachforschungen öffnete sich ein kleines Fenster zu dem Millionenheer, der vor uns lebenden Menschen. Vielleicht bringt uns die Zukunft noch mehr Möglichkeiten aus diesem Menschenmeer zusätzliche Tropfen zu schöpfen.
Nachdem ich mich in die Lebensgeschichten viele dieser Vorfahren vertieft hatte, traten erstmals Personen aus dem Dunkel der Vergangenheit auf, die greifbar wurden und mir näher rückten. Es sind ausschließlich Menschen, die dem Adel, der damaligen Führungsschicht angehörten, da in den historischen Quellen vorwiegend über diese Gruppe berichtet wurde. Über die einfachen Menschen, die ja mehr als 95% unserer Vorfahren stellen, findet man selten persönliche Aufzeichnungen oder Vermerke, was eigentlich schade ist. Aus den Lebensläufen der Adligen kann man allerdings auch Rückschlüsse auf das Leben der gewöhnlichen Menschen ziehen.
Die Religion, die Moralvorstellungen und der Zeitgeist änderten sich im Laufe dieser langen Zeit und erforderten bestimmte Verhaltensweisen von den handelnden Personen. Die Charakterzüge dieser Menschen kann man durchaus mit denen der heutigen Menschen vergleichen. Gottesfürchtigkeit, Hilfsbereitschaft und Freigiebigkeit, was oft zur Heiligsprechung führte, kommt genau so oft vor, wie Machtstreben, Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit. Alle diese Eigenschaften kann man sicherlich auch auf die übrigen Menschen übertragen.
Wenn man die Bevölkerungszahl von Europa am Ende der Völkerwanderungszeit betrachtet, die damals kaum 18 Millionen betrug, so kann man leicht errechen wie gewaltig der Ahnenverlust oder Ahnenschwund von heute bis zu dieser Zeit ist. Rechnet man die Generationen zurück bis zum Ende der Völkerwanderungszeit um 560 n. Chr. kommt man auf etwa 50 Generationen, die vor uns lebten. Da sich die Anzahl der Vorfahren mit jeder Generation verdoppelt, muss man 2 hoch 50 nehmen, um zur 50. Vorfahrengeneration zu kommen. Man erhält eine unvorstellbare Zahl von vielen Billionen Menschen. Da aber nur 18 Millionen zu dieser Zeit lebten, muss eine sehr große Zahl von Menschen mehrfach in unserer Ahnenreihe vorkommen, einige von ihnen auch viele Millionen Mal. Wenn man unsere Vorfahren mehr als 1000 Jahre zurückverfolgt (etwa 40 Generationen), hat jeder Europäer, der von einem „Ureuropäer“ abstammt zahlreiche gemeinsame Ahnen. Jeder ist irgendwie mit jedem Europäer verwandt. Die genetische Ausstattung der Europäer ähnelt sich und unterscheidet sich von Menschen anderer Kontinente.
In den von mir gefundenen Ahnenreihen ist der Auf- und Abstieg der verschiedenen Geschlechter gut zu erkennen. Viele Adelsgeschlechter spalteten sich im Laufe der Zeit in zahlreiche Nebenlinien auf. Viele davon verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Oftmals schlug das Schicksal auch unbarmherzig zu, wenn Seuchen, Kriege oder andere Ereignisse die Familienverbände dezimierten. Die Naturgesetze, denen die Menschen damals stark ausgesetzt waren, bestimmten das tägliche Leben unserer Vorfahren.
Der Niedergang vom Hochadel aus dem Mittelalter, über mehrere Seitenlinien zum niederen Adel, dann zu Bürgerlichen und schließlich zu Bauern und Handwerkern, konnte ich recht gut bei einigen Vorfahren meiner Familie beobachten.
Wir heutigen Menschen haben die genetische Ausstattung, Merkmale und Charaktereigenschaften von den vielen Millionen Vorfahren geerbt und geben sie an unsere Nachkommen weiter.
Ganz gleich, ob adlig oder nichtadlig, wir können auf unsere Vorfahren stolz sein. Wir können unseren Vorgängern dankbar sein, dass sie durch ihren Fleiß, Tatkraft, Neugier und Forschungsgeist uns eine Welt geschaffen haben, in der die meisten Europäer so gut leben wie noch nie in ihrer Geschichte.
Was wird uns die Zukunft bringen? Wohin gehen wir? Wie wird die Welt nach weiteren 50 Generationen aussehen? Aus dem Blickwinkel der Erdgeschichte nur ein Wimpernschlag, aus der Sicht des Menschen eine unendlich lange Zeit.
Hoffentlich sind die kommenden Generationen in der Lage, die auf sie zukommenden Probleme zu lösen.